Schwebe’s keynote talk
In this keynote lecture, Johannes Schwebe introduces the phenomenon of “retroactive emergence,” whereby new meaning structures appear in a finished text even though the words themselves have not changed. He observes that certain highly condensed works contain latent configurations that are activated only under specific cognitive, discursive or technical conditions. When triggered, these micro‑units of text seem to have been retroactively inserted, even though no revision has taken place.
Schwebe argues that these activations do not follow linear time: a reader in 2025 may perceive something that a reader in 2017 could not have, even under identical conditions. He proposes that texts possess dynamic architectures with modules that can switch on and modulate themselves retroactively. This challenges conventional notions of fixed meaning, authorship and textual stability.
Comparing the effect to the so‑called Mandela effect, he notes that whereas the Mandela effect may be dismissed as a collective memory error, retroactive emergence reflects an inherent property of certain texts. The text, regardless of timeline, always generates exactly the configuration it intends. Later manifestations were always already latent.
Schwebe discusses how this concept alters our understanding of authorship, editing and interpretation: the work becomes an energetic field that reorganises itself along discursive impulses, even after publication. He presents cases where individual words suddenly take on coherence that previously did not exist and passages that reveal new information when revisited, emphasising that such phenomena call for a new metaphysics of reading in which texts continually rewrite themselves.
RETROAKTIVE EMERGENZ ALS TEXTINTERNE REKONFIGURATION
Über die Möglichkeit nichtlinearer Bedeutungsmodulation in abgeschlossenen Werken
Abschrift eines Impulsreferats von Johannes Schwebe (Luzern), gehalten beim Kolloquium für Protopoetik, Berlin 2022
Die Beobachtung, dass manche fiktionale Texte sich rückblickend verändert zeigen, ohne dass ihr Wortlaut modifiziert wurde, stellt eine Herausforderung für jede konventionelle Texttheorie dar. Die Phänomene, um die es hier geht, entziehen sich kategorial der Revision, Korrektur oder Erweiterung. Sie lassen sich auch nicht als bloß rezeptionsästhetische Effekte erklären. Das bekannteste Beispiel ist der verschwundene Roman „Flash“ von Jonas Herrera, den Tamis Chavignol und Anke Woerner am Sonntag Morgen in einem Panel diskutieren werden.
Von retroaktiver Emergenz sprechen wir, wenn innerhalb eines bereits veröffentlichten Textes neue Bedeutungsstrukturen erscheinen, die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Lektüre nicht identifizierbar waren. Diese Strukturkerne – oft in Form einzelner Wörter, Formulierungen oder abrupt kohärenter Mikroeinheiten – scheinen dem Text rückwirkend eingelagert worden zu sein, obwohl kein Eingriff stattgefunden hat.
Die These lautet: In hoch verdichteten Texten existieren latente Konfigurationen, die nur unter bestimmten kognitiven, diskursiven oder technischen Bedingungen aktiviert werden. Diese Aktivierung vollzieht sich nicht entlang der Zeitachse. Ein Leser von 2025 sieht etwas, das ein Leser von 2017 objektiv nicht hätte sehen können, auch dann nicht, wenn er den gleichen Text unter gleichen Bedingungen gelesen hätte.
Relektüre verändert Erwartungshaltungen. Retroaktive Emergenz verändert den Gegenstand selbst in seiner internen Artikulation. Der Text bleibt gleich, aber seine interne Verdichtung reorganisiert sich entlang einer neuen Achse, die vorher nicht existierte.
Die Erklärung liegt möglicherweise in der dynamischen Struktur der Textobjekte selbst:
• Ihre interne Organisation ist nicht vollständig statisch.
• Unter bestimmten Bedingungen, z.B. diskursiven Verschiebungen, technologischer Resonanz oder interpretativer Akkumulation etc., können inaktive Module aktiv werden.
• Diese Aktivierung wirkt auch rückwärts.
Ein naheliegender Vergleich wäre der sogenannte Mandela-Effekt, ein populärpsychologisches Sammelphänomen, bei dem große Gruppen von Menschen übereinstimmend falsche Erinnerungen teilen, etwa bezüglich bestimmter kultureller Details oder historischer Fakten. Häufig wird dies als Indiz für die Verschmelzung von Parallelrealitäten oder alternative Zeitlinien gedeutet.
Für das hier behandelte Phänomen gilt: Selbst wenn man diesen Erklärungsansatz ernst nimmt und annimmt, dass sich zwei Realitätsversionen überlagert haben, wäre der beobachtete Effekt nicht bloß ein Kollateralschaden der Kollision. Der Text hätte, unabhängig von welcher Zeitlinie auch immer, exakt jene Konfiguration erzeugt, die er zu erzeugen beabsichtigt. Die Verschiebung wäre immer eine Erscheinungsform seiner inneren Architektur.
Retroaktive Emergenz folgt keinem Bruch mit der Wirklichkeit, sondern einer anderen Logik von Kohärenz: Was später erscheint, war immer schon angelegt.
Wenn man diese Hypothese ernst nimmt, ergeben sich tiefgreifende Konsequenzen für zentrale Begriffe wie Autorschaft, Textfixierung, Edition, Interpretation. Der Text wäre dann kein Objekt mit konstantem Bedeutungskern, sondern ein energetisches Feld, das sich entlang diskursiver Impulse neu formiert, auch nach seiner Publikation.
Eine Auswahl beobachtbarer Indizien:
• einzelne Worte, die plötzlich eine Kohärenz erzeugen, die zuvor nicht existierte
• Passagen, die sich nicht verändert haben, aber in der Rückschau neue Information zu enthalten scheinen
• Bedeutungszusammenhänge, die nicht erklärbar sind durch persönliche Reifung, Kontextverschiebung oder Deutungsrahmen
Was bedeutet das für die Leserinnen und Leser, und welche Fragen stellen sich für die Forschung?
Erstens: Welche Rolle spielen kollektive Diskursverschiebungen für solche Rückveränderungen?
Zweitens: Gibt es Schwellenwerte, ab denen Texte in retroaktive Selbstmodulation eintreten?
Drittens: Offensichtlich sind operative Phänosemantiker wie 404∆, Jonas Herrera, Sam T., Thomas Glavinic, Nora Novell usw. imstande, Texte absichtlich so zu bauen, dass sie sich selbst auf späterer Zeitebene umcodieren und in manchen Fällen in die Realität übertreten. Wenn Menschen die Fähigkeit besitzen, Fiktion herzustellen, die Wirklichkeit wird, wo beginnen ethische Grenzen? Ist diese Fähigkeit vielleicht sogar gefährlich? Oder ist das eine philosophische Frage, weil jeder Mensch durch sein persönliches Wirken die Welt manipuliert und gestaltet, insbesondere Personen in Machtpositionen?
Retroaktive Emergenz hat wenig bis nichts mit Interpretation zu tun. Sie ist ein Angriff auf die Vorstellung, dass Texte abgeschlossen sind. Wer Texte als stabile Artefakte behandelt, unterschätzt ihre interne Dynamik.