Narratogenic Emergence – Original (German)

TAMIS CHAVIGNOL

NARRATOGENE EMERGENZ UND DIE FIKTION ALS REALITÄTSMODUL

(aus dem Französischen von Johannes Schwebe)

Text ist nicht gleich Text. Ein Spickzettel ist ein Spickzettel. Eine Quittung ist eine Quittung. Eine Gebrauchsanweisung für einen Kühlschrank ist nicht mehr als eine Gebrauchsanweisung für einen Kühlschrank. Bei keinem der drei Texte handelt es sich um einen fiktionalen Text.

Madame Bovary von Gustave Flaubert ist ein fiktionaler Text. Die Erzählung Der Koala, geschrieben von einer Amateurautorin aus Nantes, ist ebenfalls fiktional. Aber Madame Bovary erzeugt etwas, das Der Koala nicht erzeugt. Was ist das?

Die klassische Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Texten scheint unzureichend. Wir verwenden daher eine kühnere Terminologie: Es gibt lebendige Texte und inerte Texte, Textsubjekte und Textobjekte – wie es auf der einen Seite Menschen und sprachbegabte Tiere gibt und auf der anderen Seite Tiere ohne Sprache. Der Koala ist ein lebendiger Text, aber er ist ein Textobjekt. Er existiert durch die Sprache. Madame Bovary ist ein lebendiger Text, aber er ist ein Textsubjekt. Dieser Text weiß, was er will.

Was einen Text lebendig macht, ist seine Fähigkeit zur Selbstorganisation, Phasenänderung und zur Interaktion mit realen Systemen. Ein inaktiver Text verfügt über keine dieser Eigenschaften. Er kann sich nicht zu einem Realitätsmodul konstituieren.

Unsere Hypothese lautet: Fiktion ist kein Spiegel der Welt, sondern ein System, das reale Module hervorbringen kann. Ein narratogener Text ist einer, der durch die Dichte und Interferenz seiner narrativen Komponenten (Handlungsstränge, Perspektiven, semantische Schichten) eine neue Organisation erzeugt, die die Repräsentation übersteigt.

Man nennt das Realitätsmodul die Einheit der Emergenz, die sich in narratogenen Texten bildet und nach Überschreiten einer kritischen Schwelle autonom und beobachtbar wird. Dieses Modul interferiert mit realen Strukturen und kann sie verändern. Fiktion wird so zu einem Eingriff in das Feld des Möglichen.

Damit sich ein Realitätsmodul bildet, muss die innere Dichte des Textes ein kritisches Intervall erreichen. Dieses Intervall wird durch messbare Variablen definiert: Anzahl der narrativen Linien, Zahl der Figuren, semantisches Volumen, Spannungssgradienten und Interferenzrate. Wenn diese Variablen sich gegenseitig verstärken, entsteht ein Modul.

Wenn ein Modul entsteht, gehorcht es nicht mehr den Gesetzen des Textes. Es besitzt seine eigene Existenzweise und kann mit äußeren Realitäten in Resonanz treten. Die Vorstellung des Textes als bloße Repräsentation der Welt verliert dann ihren Sinn. Der Text wird zu einem Organismus, der auf die Realität einwirken kann.

Das Brüsseler Forschungszentrum (2009–2023) führte Experimente zu Realitätsmodulen durch. Es nutzte Basismessungen, injizierte Geschichten in Testgruppen, beobachtete Anomalien blind und korrelierte diese statistisch mit den textuellen Parametern. Die Ergebnisse zeigen, dass Realitätsmodule auftreten, wenn Texte ein Maß an Dichte und Interferenz erreichen, das das System kippt. Die Welt ist nicht geschlossen: Sie wird von Geschichten durchdrungen, die sie rekonfigurieren können.

Das narratogene Projekt besteht darin, die Zonen zu kartieren, in denen Geschichten zu Kräften werden. Es stützt sich auf Chavignols Topologie des Imaginären, die die Grenze zwischen Imaginärem und Realem als topologische Falte beschreibt, in der sich beide vermischen. Die Schließung des Zentrums in Brüssel im Jahr 2023 hat diese Forschung nicht beendet, sondern nur ihren Schwerpunkt verlagert.

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