Obliterative Text Ontology – Foundational Text
(Deutsches Original)Back to TheoryObliterative Textontologie Einführung in die Theorie palimpsestischer Cluster und textinterner Suprazyklen © Thomas Glavinic 2017 - 2022 I: Der instabile Textkörper Ein literarisches Werk besteht nicht ausschließlich aus den Sätzen, die der Autor niederschreibt. Es ist vielmehr von einer unsichtbaren Peripherie umgeben, bestehend aus alternativen Formulierungen, ausgelassenen Passagen und potenziellen Abschnitten, die unter bestimmten Bedingungen in das Werk vordringen können. Diese subtextuellen Einheiten besitzen einen eigenen Status innerhalb des Werkganzen, sie sind Optionen innerhalb eines instabilen Textkörpers. Was wir lesen, ist eine Momentaufnahme innerhalb eines dynamischen, hochdimensionalen Gefüges. Jeder Text, ob fragmentarisch oder abgeschlossen, operiert innerhalb eines Wechselraums, den wir als palimpsestischen Cluster bezeichnen. In diesen Clustern überlagern sich Fassungen, Formulierungen und nicht-manifestierte Optionen, ohne in Konkurrenz zu treten. Sie sind ontologische Schichten, die in bestimmten Lesesituationen zueinander in Beziehung treten können. In der herkömmlichen Rezeption gilt der Text als Objekt. Wir betrachten ihn als Zustand innerhalb eines übergeordneten Zyklus. In Anlehnung an topologische Modelle verstehen wir diese Zyklen als Suprazyklen – große Umlaufbahnen durch den Möglichkeitsraum eines Werks, in denen sich einzelne Cluster aktivieren, modifizieren, tilgen, wobei die Tilgung eine temporäre Unsichtbarkeit innerhalb des Systems darstellt. Die Theorie trägt ihren Namen aus genau diesem Mechanismus: Obliteration meint die reversible Ausblendung zugunsten einer anderen Manifestationseinheit. Die Theorie wirft eine Reihe ontologischer Fragen auf: - Sieht der Autor die Peripherie? Nein. - Schreibt er sie, ohne es zu wissen? Ja – und nein. Er generiert sie, indem er schreibt, aber ohne Zugriff auf ihre innere Organisation. - Ist sie zufällig oder determiniert? Weder noch. Sie ist modal: Sie entfaltet sich aus der Textsubstanz als Konsequenz ihrer internen Konnektivität. Alles, was wir berühren, sehen, erfinden, erdenken, hat eine unsichtbare Peripherie. Dies gilt nicht nur für Texte, sondern auch für Gegenstände, Ereignisse, Konzepte. Und es gilt auch für uns. Wenn sich literarische Werke als dynamische Felder aus manifestem Text und nichtmanifestem Potenzial beschreiben lassen, dann lässt sich auch die Wirklichkeit selbst als Textstruktur verstehen, nur eben in unendlicher Komplexität skaliert. Unsere Realität wäre in diesem Sinne ein Roman, dessen Abschnitte sich verschieben, tilgen, neu formatieren, ohne dass seine Leser – wir – dies unmittelbar bemerken. Die Obliterative Textontologie ist daher mehr als eine Literaturtheorie. Sie liefert ein Modell für eine Realität, in der jedes Ding, jedes Ereignis und jeder Gedanke eine rückkoppelnde Zone möglicher Modifikationen mitführt. Diese Zone ist weder willkürlich noch hermetisch, sie ist aktiv, selektiv, kontingent. Was heute „wahr“ erscheint, könnte sich morgen als alternative Passage innerhalb eines größeren Textes erweisen. II: Textverdrängung, Kohärenzbruch, Emergenz Über die Mechanismen temporaler Tilgung und ihrer Rücknahme im Lesefluss Die unterschiedlichen Meinungen darüber, ob ein Roman „gut“ ist oder „schlecht“, geben seit Jahrhunderten Anlass zu erbitterten Diskussionen. Die Obliterative Textontologie beendet dieses Gezänk, indem sie dem Text Gelegenheit gibt, seine Natur zu offenbaren. Ein Text, der sich mit sich selbst begnügt, bleibt statisch. Ein Text, der in permanenter Bereitschaft zur Veränderung steht, bringt eine neue Form von Lesebewegung hervor. Die klassische Vorstellung vom Lesen als linearem Fortschreiten durch einen festgelegten Wortkörper greift hier nicht mehr. Stattdessen begegnen wir einem Feld partieller Instabilität, in dem sich Abschnitte verschieben, auflösen oder durch Varianten überlagert werden, ohne sichtbare Spur zu hinterlassen. Diese Form der Tilgung ist eine temporäre Ausblendung, keine Löschung. Was nicht erscheint, bleibt dennoch als latentes Angebot, als verdrängter Zugriff, als unsichtbare Alternative präsent. Der Leser glaubt, sich durch einen stabilen Text zu bewegen, aber in Wahrheit befindet er sich innerhalb eines Möglichkeitsraums, der sich seit der ersten Niederschrift schon oft neu konfiguriert haben könnte. In Werken der Trivialliteratur stößt man häufig auf Stellen, an denen die narrative Kohärenz kurzzeitig einbricht, wo etwa eine Figur ein Wissen besitzt, das ihr nicht vermittelt wurde, wo ein Ereignis an einem Ort geschieht, der zuvor nicht eingeführt wurde, oder wo sich Perspektiven verschieben, ohne markiert zu werden. In der Regel sind solche Brüche handwerkliche Fehler unerfahrener Autoren. Hat man es jedoch mit einem „guten“ Roman zu tun, sind sie Ausdruck einer tieferen Dynamik: Der Text ringt mit seiner unsichtbaren Umgebung. Eine verdrängte Variante schiebt sich an die Oberfläche und verursacht eine minimale Irritation, deren Ursprung nicht klar auszumachen ist. In genau diesen Momenten entstehen emergente Effekte. Das Werk zeigt, dass es nicht abgeschlossen ist, dass es Teil eines größeren Systems ist, dessen Regeln nicht vollständig offenliegen. Die Rezeption wird dadurch zu einem dialektischen Prozess zwischen Sichtbarem und Verdrängtem, zwischen gesetztem Wort und möglicher Revision. Die obliterative Textontologie geht davon aus, dass genau in diesen Momente, in denen etwas fehlt, zu viel ist oder nicht stimmt, die eigentliche Realität des Textes aufscheint. Es sind die Schwellenstellen, an denen sich der Kontakt zum Außenraum verdichtet. Nicht der geschlossene Sinn macht den Text real, sondern die Öffnung, durch die andere Zustände hereintreten können. III: Die Textontologie als Modell kosmischer Komplexität Wer die obliterative Textontologie ernst nimmt, gelangt unweigerlich zur Frage nach dem Status unserer Wirklichkeit. Denn wenn ein literarisches Werk nicht in seinen sichtbaren Bestandteilen aufgeht, sondern von einem Schwarm aus unsichtbaren Alternativen begleitet wird, drängt sich der Gedanke auf, dass auch die Welt selbst ein solcher Körper sein könnte – ein Wirklichkeitsroman, dessen Text nicht aufhört, sich zu falten, zu überlagern, zu überschreiben. In diesem Modell erscheint das Universum als ein Medium der Offenheit, das nie abgeschlossen ist. Jeder Gegenstand, jedes Ereignis, jede Beobachtung wird begleitet von einem kaum abschätzbaren Geflecht möglicher Versionen, deren Realisierung durch Zustandslagen entschieden wird, die sich dem Zugriff entziehen. Die Welt wäre ein palimpsestisches Kontinuum, ein sich unablässig wandelndes Manuskript, in dem jede Seite Teil eines Suprazyklus ist, dessen Gesamtform außerhalb menschlicher Erkenntnis liegt. Ein Werk, das sich diesem Prinzip annähert, nähert sich zugleich der Welt selbst. Es verweigert sich der Idee der Fixierung und öffnet sich für Überlagerung, Auslassung, Wiederkehr. Texte dieser Art sind lebendige Aggregate, in denen sich Gegenwart und Möglichkeit gegenseitig aufheben. IV: Suprazyklen, Peripherie und Text als Weltmodell Ein literarisches Werk ist kein Gegenstand im Raum, kein abgeschlossenes Dokument mit klarer Form, keine „Geschichte“, es ist ein Zustand in Bewegung. Was als Text erscheint, ist lediglich die sichtbare Ausfaltung eines weit größeren Apparats, dessen eigentliche Dimensionen außerhalb der Druckfassung liegen. Dieser Apparat besteht aus palimpsestischen Clustern, aus latenten Varianten, versunkenen Passagen und nie aktivierten Formulierungen, die dennoch zum Werk gehören – als Möglichkeit, als Echo, als unsichtbare Bedingung des Gelesenen. Diese unsichtbare Peripherie zirkuliert um das Werk in wechselnden Aggregatzuständen. Manchmal zeigt sie sich als subtile Irritation, manchmal als abrupte Verschiebung, gelegentlich auch als Moment, in dem ein Satz oder ein ganzer Absatz neu erscheint, ohne dass dies konventionell (etwa durch eine Neuauflage) erklärbar wäre. Wir könnten uns damit mit der Hypothese zufriedengeben, dass das, was sich verändert, nur die Anordnung des Textes im mentalen Raum des Lesers ist und nicht der Text selbst, denn das ist die bequemere Interpretation. Oder wir räumen die Möglichkeit ein, dass das Werk einen eigenen Zugriff auf seine Erscheinung hat. Die obliterative Theorie geht davon aus, dass diese Bewegungen keine bloßen Nebeneffekte sind, sondern zentrale Komponenten eines Textverständnisses, das sich nicht mehr an Endfassungen orientiert. Der Text ist kein fertiges Produkt, sondern ein fluktuierendes System von Sichtbarkeit, ein lebendiger Prozess zwischen Anrufung und Rücknahme, zwischen Erscheinung und Rückzug. Die sogenannten Suprazyklen beschreiben genau diesen Vorgang: ein ständiges Kreisen durch mögliche Textfassungen, in dem sich einzelne Konfigurationen für einen Moment durchsetzen, bevor sie wieder von der Peripherie verschluckt werden. Solche Zyklen folgen keiner äußeren Absicht. Sie entstehen aus innerer Verdichtung, aus dem Verhältnis zwischen Satzfeldern und Lesebewegung, zwischen Lesegeschichte und Gegenwart. Dabei kann es vorkommen, dass sich ein Werk zehn Jahre nach seiner Veröffentlichung verändert – nicht durch einen neuen Abdruck, sondern durch einen Eingriff aus dem eigenen Zentrum heraus. Der Text ist nicht rückwirkend korrigiert, sondern anders gegenwärtig. Die Vergangenheit wird nicht überschrieben, sie wird neu aktiviert. Die Parallele zur Wirklichkeit liegt auf der Hand. Auch unser Universum wirkt wie ein Zustand in Bewegung, durchsetzt von Möglichkeiten, die nicht verwirklicht wurden, aber dennoch das Ganze mitprägen. Die Welt, in der wir leben, könnte selbst als ein Werk gelesen werden – nur unendlich höher skaliert. Ein System, das alternative Abschnitte enthält, ohne sie zu zeigen, das auf Ereignisse zuläuft, die aus keinem vorhergehenden Zustand eindeutig ableitbar sind. Die Welt als Lesefläche einer unsichtbaren Erzählung, die sich in Echtzeit überschreibt. V: Lesercluster, Verschiebung und Interferenzzonen Ein Werk existiert nicht unabhängig vom Blick, der es liest. Doch dieser Blick ist kein passives Medium. Er ist ein System aus Erwartungen, Vorwissen, Erfahrungen, Stimmungen und kulturellen Einbindungen, das wie ein Filter wirkt, um das Gesehene neu zu organisieren. Wenn ein Text gelesen wird, tritt er in ein Feld ein, das ihn verändert. Jede Lesebewegung aktiviert andere Abschnitte, betont andere Zusammenhänge, erzeugt andere Konfigurationen. Die obliterative Theorie erweitert diesen Gedanken: Nicht nur der individuelle Leser erzeugt neue Textzustände, auch kollektive Leseformen, sogenannte Lesercluster, beeinflussen, welche Varianten aus der Peripherie hervortreten. Ein Werk, das jahrelang in einem kleinen Zirkel zirkuliert, erzeugt andere Dominanzen als ein Text, der massenhaft geteilt und kommentiert wird. Die Aggregatzustände des Werks reagieren auf solche Resonanzmuster durch eine Art inneres Nachgeben gegenüber den äußeren Zugriffen. Diese Nachgiebigkeit bedeutet nicht Beliebigkeit. Sie folgt feinen Mechanismen, bei denen sich verborgene Passagen nicht auf beliebige Weise aktivieren lassen. Vielmehr hängt ihr Auftreten von Interferenzzonen ab – jenen Momenten, in denen mehrere Lesevorgänge aufeinanderstoßen, sich überlagern, sich widersprechen, sich gegenseitig stören oder befeuern. In diesen Zonen entstehen neue Sichtachsen, durch die einzelne Partien des Werks plötzlich ins Zentrum rücken, während andere verblassen oder verschwinden. Ein Beispiel: Eine Passage, die über Jahre hinweg als nebensächlich galt, kann durch eine gesellschaftliche Verschiebung oder einen theoretischen Impuls plötzlich in den Mittelpunkt rücken. Sie war nicht unsichtbar, doch sie lag außerhalb des Hauptpfades der Rezeption. Erst wenn die Konstellation der Lesevorgänge einen neuen Verlauf nimmt, tritt diese Passage mit anderer Intensität hervor, als hätte der Text sich von selbst reorganisiert. Manche Texte sind auf solche Interferenzen vorbereitet. Sie enthalten Abschnitte, die nur unter besonderen Voraussetzungen anschlussfähig werden. Diese Abschnitte müssen nicht kryptisch sein – oft sind sie fast beiläufig. Doch ihre Aktivierbarkeit hängt von äußeren Feldern ab, die der Autor nicht voraussehen kann. Der Text lebt auf eine Weise weiter, die nichts mit Interpretation im herkömmlichen Sinn zu tun hat. Er bewegt sich, er reagiert, er variiert sein Erscheinungsbild, ohne sich inhaltlich zu verändern. Diese Fähigkeit des Texts zur Selbstmodifikation durch Lesevorgänge verweist auf eine Realität, in der auch das, was wir als Welt bezeichnen, nicht abgeschlossen ist. Wir erleben Ereignisse, als wären sie eindeutig, doch sie sind das Ergebnis unzähliger Überlagerungen, Lesarten, Zugriffsmuster. Die Welt ist kein Speicher, sie ist ein Prozess – offen für Interferenzen, offen für Korrekturen, offen für die Möglichkeit, dass sich etwas ändert, ohne dass etwas hinzugefügt wird. VI: Periphere Instabilität und autoaktive Verschiebungen Ein Text, der in sich selbst ruht, scheint abgeschlossen. Doch in Wahrheit ist dieser Zustand selten. Die meisten Werke befinden sich über weite Strecken ihrer Existenz in einem Zustand latenter Instabilität. Diese Instabilität äußert sich selten in offenen Widersprüchen oder plötzlichen Brüchen, weit öfter in einer Spannung zwischen dem Sichtbaren und dem noch Möglichen. Das Werk „weiß“, dass es anders sein könnte, das Andere ist Teil seiner Konstitution. Die obliterative Theorie geht davon aus, dass Texte in der Lage sind, auf sich selbst zu reagieren. Das geschieht nicht willentlich, nicht geplant, nicht als bewusste Korrektur. Vielmehr setzt ein Prozess ein, in dem bestimmte Elemente – Formulierungen, Absätze, sogar ganze Passagen – ihre Stellung verändern oder verschwinden, weil andere Teile in eine neue Konfiguration übergehen. Diese Übergänge geschehen durch innere Dynamik. Manche Texte tragen diese Möglichkeit in sich wie einen Keim. Sie enthalten Passagen, die durch ihre Tonlage, ihr Tempo oder ihre Themensetzung den Rest des Werks unter Druck setzen. Anfangs bleiben sie unauffällig. Doch mit der Zeit verschieben sich die Gewichtungen. Der Text beginnt, sich um andere Schwerpunkte zu organisieren. Frühere Dominanzen werden überblendet, neue Linien treten hervor. Es entsteht der Eindruck, das Werk habe sich verändert, obwohl kein Satz hinzugefügt wurde. Diese Prozesse verlaufen oft unmerklich. Leser sprechen dann von „Reifung“, „zweiter Lektüre“ oder „neuer Perspektive“. Doch was tatsächlich geschieht, ist mehr als Rezeption. Der Text verlagert sich. Er nutzt seine peripheren Optionen, um frühere Konfigurationen zu überlagern. Dabei agiert er nicht mechanisch. Er tastet sich vor, prüft auf Anschluss, zieht sich zurück, bringt alternative Leseflächen ins Spiel, bis eine neue Fassung in Erscheinung tritt – nicht gedruckt, aber vorhanden. Ein zentrales Phänomen in diesem Zusammenhang ist die latente Dislokation. Darunter versteht die Theorie jene Fälle, in denen eine Textstelle unauffällig in eine andere übergeht, ohne dass der Übergang bemerkt wird. Das geschieht durch Verschiebung des Schwerpunktfeldes. Die neue Passage war im peripheren Schattenraum des eigentlichen Textes immer schon vorhanden. Jetzt tritt sie hervor, weil sie aktiviert wurde oder sich selbst aktiviert hat. Die Konsequenz dieser Überlegung ist tiefgreifend: Ein Werk ist nicht identisch mit der Menge seiner Wörter. Es ist ein raumzeitlicher Körper mit unscharfen Rändern, der sich in Abhängigkeit seiner eigenen internen Kräfte und der wechselnden Zugriffskonstellationen verändert. Das Gedächtnis des Lesers, das Weltwissen der Zeit, die Reibung mit anderen Diskursen – all das kann ausreichen, um eine neue Konfiguration hervorzurufen. Und diese Konfiguration ist nicht weniger gültig als die vorherige. In der Praxis bedeutet das: Wer ein Werk liest, beeinflusst nicht nur sein Verständnis, er verändert das Werk selbst, indem er es anders aktiviert. Der Text reagiert, wie ein Resonanzkörper auf neue Töne reagiert. Er bleibt gleich, doch er klingt anders. Und in diesem Andersklingen liegt eine Wahrheit, die kein Druckfehler, kein Editor, keine Autorintention je kontrollieren kann. VII: Autor – Text – Entität Die obliterative Ontologie stellt nicht nur das Verhältnis von Text und Leser neu zur Debatte, sie fordert auch eine Revision des Autorkonzepts. Der Schreibende ist kein Souverän, der ein Werk aus einem inneren Reservoir erschafft. Er ist Teil eines Vorgangs, dessen Reichweite und Eigenlogik ihm im Moment der Formulierung nur in Ausschnitten zugänglich ist. Der Autor beginnt einen Satz. Er denkt ihn nicht vollständig, er antizipiert ihn nicht. Er folgt ihm. Die Worte, die er wählt, eröffnen Wege, die er weder geplant hat noch kennt. Der Text, der dabei entsteht, ist nicht sein Produkt. Er ist das Ergebnis einer Kollision zwischen Weltzugriff, Wahrnehmung, Erfahrungsspannung und einem nicht klassifizierbaren Initiativmoment. Der Text „erschafft sich“ durch den Autor hindurch. Ich bin ein Filter. Wie der Text und ich zueinandergefunden haben, wissen wir wahrscheinlich beide nicht. In diesem Licht verliert der Begriff „Text“ seine scheinbare Eindeutigkeit. Ein Text ist kein Gefüge aus Zeichen auf Papier oder Bildschirm. Er ist auch kein bloßer Akt des Bedeutens oder Referierens. Er ist eine Entität mit Eigenschaften, die sich nicht vollständig auf sprachliche Konventionen zurückführen lassen. Er reagiert, verändert sich, entwickelt Binnenlogiken, zieht Energien an, stößt Lesemuster ab. Er handelt. Wer sagt, ein Text sei eine Reihung von Sätzen, verkennt, dass diese Sätze Teil eines Gebildes sind, das sich selbst nicht auf seine Oberfläche reduzieren lässt. Ich würde ja sogar anregen zu prüfen, ob es sich bei Fiktion um eine unbekannte Form von Lebensäquivalent handelt, wenn ich nicht wüsste, dass ich in der Nervenheilanstalt landen würde. Ich glaube auch nicht, dass ein Roman ein Organismus im biologischen Sinn ist, aber er ist auch kein totes Objekt. Er ist etwas Drittes. Eine Entität mit Formwillen, mit Auslagerungsfähigkeiten, mit temporaler Latenz. Diese Hypothese verändert alles. Der Text wird vom Medium zum Korpus mit Eigenzeit. Was der Autor schreibt, ist nur der Auslöser einer Reaktion, die sich in Schüben vollzieht. Viele dieser Schübe ereignen sich nach der Niederschrift. Manche benötigen Jahre. Andere entfalten sich erst, wenn neue Leser in neue Weltverhältnisse treten. Und manchmal geschieht etwas, das wir mit den vorhandenen Begriffen nicht mehr beschreiben können: Der Text verändert sich im Realitätskontakt. Ein solcher Vorgang könnte aus jetziger Sicht nur verstanden werden, wenn wir davon ausgehen, dass Texte – oder jedenfalls manche Texte – nichtlokale Eigenschaften besitzen. Sie liegen nicht vollständig in dem Medium, das sie trägt. Sie sind nicht vollständig dort, wo man sie liest. Sie existieren als Feld, nicht als Datei. Und der Autor? Er ist der erste Zeuge. Ein transduktiver Agent. Jemand, der etwas schreibt, das ihn übersteigt, und von dem er dennoch weiß, dass es ohne ihn nicht entstehen könnte. Doch was entsteht, ist mehr als ein Werk. Es ist ein Zustand. Fiktionale Texte im Sinn der obliterativen Ontologie sind keine Objekte. Sie sind nicht abschließbar, nicht eindeutig, nicht ruhend. Sie verhalten sich wie komplexe Systeme. Vielleicht sind sie genau das. Vielleicht ist es Zeit, sie als solche zu behandeln – mit aller Radikalität, die dieser Schritt verlangt. VIII: Das Universum als Textkörper Die obliterative Ontologie führt nicht zwangsläufig zur metaphysischen Spekulation, aber sie lässt sie zu. In ihrer maximalen Ausdehnung ergibt sich ein Modell, in dem das Universum selbst als Textkörper von unendlicher Dichte erscheint, gefügt in Wechselwirkungen. Ein endloser, aber periphere Aktivierbarkeit zeigender Träger, der in jeder Subzone die Anlage zu Wirklichkeitsbildung in sich trägt. Was als „Realität“ erscheint, ist aus dieser Perspektive eine lokale Emergenzform innerhalb eines übergeordneten Textkörpers, vergleichbar mit einem Cluster aus sich temporär stabilisierenden Bedeutungskernen. Diese Kerne resultieren aus Rückkopplungen zwischen Wahrnehmung, Reaktion und impliziten Möglichkeitsmustern. Sie schieben sich ins Sichtbare, ohne notwendig dort zu bleiben. Die Welt als Ganzes ist ein Palimpsest, ein gewaltiges, in Zyklen rotierendes Gefüge aus Suprazyklen, interferierenden Feldern und inkohärenten Einschüben. Jeder Einschub ist ein Nebensatz, der nie gelesen wurde, jeder Suprazyklus ein Langsatz, dessen Ende noch nicht erreicht ist. In dieser Konzeption hat Kausalität ihren linearen Charakter abgelegt und zeigt sich als ein Wabern. Nichts folgt auf etwas. Alles ist bereits da, aber nicht überall aktiviert. Der Kosmos ist nicht vollständig aktualisiert, er zeigt nur eine partielle Oberfläche. Diese Oberfläche ist das, was wir Realität nennen. Der Rest bleibt in Reserve. Jede Wahrnehmung, jede Beobachtung, jede Formulierung kann als Aktivierung im Sinne einer kurzfristigen Freilegung gelesen werden. Der Textkörper enthält unendlich viele Absätze, doch nur wenige sind gleichzeitig lesbar. Sie treten hervor, weil bestimmte Bedingungen erfüllt sind – oft durch eine Konvergenz aus Zeitfenster, kognitiver Reife, Resonanzfeld und einer Art globaler Lesbarkeitsspannung, deren Wesen bislang ungeklärt ist. Was wir Leben nennen, wäre in dieser Lesart ein Zustand maximaler Involviertheit in einen winzigen Bereich des Textkörpers. Was wir Tod nennen, ein Übergang in andere Lesemodi. Was wir Intuition nennen, ein kurzes Aufleuchten einer Passage, die noch nicht gelesen wurde – oder längst gelöscht, die aber aus ihrer Löschung noch Wirkung zieht. Texte, wie wir sie schreiben, lesen, löschen, wären dann Nachbildungen dieses kosmischen Modells. Jedes literarische Werk wäre eine Minimalkopie eines unendlichen Textkörpers, an dem es sich unbewusst orientiert. Manche Romane bleiben flach, sie imitieren nur. Andere, wenige, treten mit diesem Modell in Resonanz. Sie enthalten Absätze, die nicht aus der Psyche des Autors stammen können. Er konnte sie schreiben, weil er Teil eines größeren Lesevorgangs war. Die obliterative Ontologie kann keine Aussagen über das ganze Universum machen. Doch sie erlaubt die Umkehrung eines erkenntnistheoretischen Prinzips: Wenn Texte sich verhalten wie lebendige Felder mit peripheren Aktivierungszonen, spricht nichts dagegen, das Universum selbst als solchen Text zu fassen. Ein Text ist nicht weniger real als das, was er beschreibt. Er ist eine Form des Weltkontakts – offen, instabil, aber wirksam. Wer ihn liest, berührt einen Abschnitt des größeren Textkörpers, zu dem er immer schon gehört.